Interview mit Prof. Molderings

Einen aktuellen Stand der Dinge spiegelt das folgende Interview (vom 14. September 2019 bei der Jahrestagung des Mastozytose e. V. in Bonn) zwischen unserem SHG-Mitglied Heinz Mahnke aus Walsrode und Prof. Gerhard J. Molderings, einem der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Mastozytose, wider.

Question: Sehr geehrter Herr Professor Molderings, erst einmal möchten wir uns sehr herzlich bedanken, dass Sie uns heute einige Fragen zum Thema Histamin-Intoleranz (HIT) und Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) beantworten. Was ist denn Histamin überhaupt?

Prof. Molderings: Histamin (chemische Bezeichnung: 2-4 Imidazolyl-[ethyl] amin) ist ein Naturstoff, der im menschlichen und tierischen Organismus, aber auch im Pflanzenreich (Man denke nur an die Brennnessel.) und in Bakterien weit verbreitet ist.

Question: Wofür benötigt unser Körper Histamin?

Prof. Molderings: Es wirkt im Körper als Gewebshormon und Neurotransmitter (also als Botenstoff zwischen den Nervenzellen). Beim Menschen und anderen Säugetieren spielt Histamin eine zentrale Rolle im Immunsystem, d. h. in der Abwehr körperfremder Stoffe, und ist an allergischen Reaktionen beteiligt. Histamin ist ein entscheidender Botenstoff in der Entzündungsreaktion (Anschwellung des Gewebes), in der Regulation der Magensäureproduktion und der Motilität
des Magen-Darm-Trakts. Im Zentralnervensystem ist es u. a. an der Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie an der Appetitkontrolle beteiligt.

Question: Nehmen wir Histamin nur über die Nahrung zu uns oder kann der Körper Histamin auch selber herstellen?

Prof. Molderings: Mastzellen, basophile Granulozyten, Zellen der Haut, der Magenschleimhaut und in Nervenzellen können aus der Aminosäure Histidin mit Hilfe des Enzyms Histidindecarboxylase in einer Ein-Schritt-Reaktion Histamin bilden. Dabei wird Kohlendioxid (Man nennt den Prozess Decarboxylierung.) abgespalten und so aus einer Aminosäure ein biogenes Amin. In diesen Zellen wird Histamin dann in kleinen „Bläschen“, den Vesikeln, an Heparin gebunden gespeichert.

Question: Ganz offensichtlich ist ein „zu viel“ an Histamin ein Grund für zahlreiche Beschwerden. Wie können diese Symptome aussehen?

Prof. Molderings: Bei unregulierter Freisetzung aus den Speicherzellen können an verschiedenen Organen Symptome auftreten. Diese reichen von Kopfschmerzen und Migräne, über Durchfall, Übelkeit, Blähungen und Bauchschmerzen, Dysmenorrhö, Kreislaufstörungen, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Müdigkeit, Schlafstörungen und Erschöpfung, Urticaria, Juckreiz, Flushsymptomatik, verstopfte Nase, Atembeschwerden bis hin zu Asthmaanfällen.

Question: Wenn man der Meinung ist, dass die so zahlreichen, unterschiedlichen Symptome mit einem „zuviel“ an Histamin zu tun haben könnten, wie wäre Ihrer Meinung nach der nächste Schritt, wie die Diagnostik erfolgen sollte?

Prof. Molderings: Es sollten zwei Schritte parallel erfolgen: Zum einen sollte während einer symptomatischen Periode Blut zur Bestimmung des Histaminspiegels im Blut abgenommen werden. Gleichzeitig macht eine Untersuchung auf den
Gehalt der Ausscheidung des Histaminmetaboliten N Methylhistamin im 12- oder 24-Stunden Sammelurin Sinn, da Histamin im Blut schnell abgebaut werden kann und der Metabolit relativ stabil die Freisetzung während der entsprechenden Sammelperiode widerspiegelt. Zum anderen sollte mit Hilfe eines Fragebogens der Verdacht untersucht werden, ob eine Mastzellerkrankung vorliegt. Denn die
Histamin-Intoleranz als eigenständige Erkrankung ist relativ selten.

Question: Was kann der Patient nach der Diagnosestellung selber tun, worauf sollte er achten?

Prof. Molderings: Das hängt davon ab, welche Diagnose gestellt wurde. Ist es tatsächlich eine Histamin-Intoleranz als eigenständige Erkrankung, kann versucht werden, die Histaminzufuhr über die Nahrung zu beschränken und Medikamente und andere Stoffe zu meiden, die den Abbau von Histamin hemmen oder dessen Bildung und Freisetzung erhöhen. Das ist eine schwierige Angelegenheit und das Vorgehen sollte unbedingt mit einem auf diesem Gebiet kompetenten Arzt abgestimmt werden. Handelt es sich um ein Symptom einer systemischen Mastzellaktivierungserkrankung, muss diese bestmöglich behandelt werden. In diesem Zusammenhang beeinflusst eine histaminarme Kost nur in den wenigsten Fällen die Symptomatik.

Question: Was sollten wir, neben einer histaminarmen Kost, bei der Ernährung sonst noch beachten?

Prof. Molderings: Wie gesagt, dass hängt letztlich von der zu treffenden Diagnose ab.

Question: Können auch Arzneimittel Einfluss auf den Histaminspiegel haben?

Prof. Molderings: Arzneimittel können die Histaminbildung reduzieren und dessen Abbau erhöhen (z. B. Vitamin C retard). Andere Arzneimittel sind dagegen in der Lage, die Freisetzung von Histamin aus den Histamin speichernden Zellen zu erhöhen oder den Abbau des Histamins durch Blockade der abbauenden Enzyme zu verzögern. Im Internet kursieren Listen zu solchen Medikamenten, die man sich herunterladen kann. Eine Änderung einer bestehenden Medikation einer zusätzlichen Erkrankung sollte aber unbedingt immer mit dem behandelnden Arzt abgestimmt werden. Ob solche Medikamente tatsächlich einen Einfluss auf die Histaminsymptomatik haben, kann letztlich nur der Auslassversuch zeigen.

Question: Arzneimittel beinhalten ja auch Hilfsmittel; können diese Hilfsmittel eigentlich auch Reaktionen hervorrufen?

Prof. Molderings: Hilfsmittel in Arzneimitteln sind nicht selten Auslöser von allergischen Reaktionen und damit Ursache für die Aktivierung von Mastzellen, die dann Histamin und andere Botenstoffe freisetzen können.

Question: Wir haben bisher nur über Histamin im Allgemeinen gesprochen. Wie unterscheiden sich denn Histamin-Intoleranz und Mastzellaktivierungssyndrom?

Prof. Molderings: Das ist in der Tat ein schwieriges Problem, da sich die Symptomatik weitgehend überlappt. Aus meiner Sicht kann eine Histamin- Intoleranz als eigenständige Erkrankung nur durch den Ausschluss des Vorliegens einer systemischen Mastzellaktivierungserkrankung demaskiert werden.

Question: Unserer Erfahrung nach ist das Wissen der meisten Ärzte gerade über das Mastzellaktivierungssyndrom noch sehr begrenzt; kann es daran liegen, dass das Mastzellaktivierungssyndrom noch keine anerkannte Krankheit ist?

Prof. Molderings: Das Mastzellaktivierungssyndrom ist international eine anerkannte Krankheit. Es ist eine Variante der systemischen Mastzellaktivierungserkrankung
(MCAD), die früher undifferenziert als Mastozytose bezeichnet
wurde. Die Ursachen dafür, dass der Kenntnisstand der Ärzte in Deutschland (ebenso wie in ausländischen Staaten) zur MCAD noch relativ begrenzt ist, sind vielschichtig. Es ist aber als positive Entwicklung zu verzeichnen, dass sich
immer mehr Ärzte mit dieser Erkrankung auseinandersetzen. Da die Zahl der bereits im jugendlichen Alter Erkrankten stark zunimmt, erwarte ich, dass dieser Trend zur Fortbildung über die MCAD weiter zunimmt.

Question: Die Mastozytose ist ja eine seit langem anerkannte Mastzellerkrankung; was ist denn der Unterschied zwischen Mastzellaktivierungssyndrom und Mastozytose?

Prof. Molderings: Mit Mastozytose meinen Sie sicherlich die systemische Mastozytose (SM). Es handelt sich bei der systemischen Mastzellaktivierungserkrankung, zu denen beide Erkrankungen zählen, um eine extrem komplexe multifaktorielle, polygene, epigenetisch dominierte Erkrankung. In den betroffenen Mastzellen können multiple Mutationen in über 35 Genen (das sind nur die bislang untersuchten) in unterschiedlichen Kombinationen auftreten. Wenn darunter bestimmte Mutationen in der Tyrosinkinase KIT sind, wie die KITD816V Mutation (die u. a. zu äußerlich sichtbaren und immunhistochemisch feststellbaren Veränderungen der betroffenen Mastzellen führen), dann wird diese Erkrankung historisch bedingt per Definition als systemische Mastozytose bezeichnet. Ursächlich für die Erkrankung ist aber nicht diese eine Mutation, sondern die Konstellation aller Mutationen. Daher handelt es sich bei MCAS und SM um ein und dieselbe Erkrankung mit Unterschieden im Aussehen der betroffenen
Mastzellen, aber nicht in der Symptomatik der beiden Erkrankungsvarianten.

Question: Bei vielen Gesprächen in unseren Selbsthilfegruppen ist uns aufgefallen, dass es bei MCAS-Patienten häufig eine psychische Komponente gibt. Natürlich, wenn es mir gesundheitlich nicht gut geht, dann bin ich auch psychisch nicht auf der Höhe. Wie ist Ihre Erfahrung mit Ihren Patienten, und welche Empfehlungen können Sie uns in diesem Bereich geben?

Prof. Molderings: Wie Sie richtig sagen, ist man durch eine solche chronische Erkrankung mit ihren z. T. stark beeinträchtigenden Symptomen psychisch labil. Zum anderen führen freigesetzte Mastzellbotenstoffe aus Mastzellen im Gehirn, aber auch solche, die aus der Peripherie über eine undichte Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangen, zu einer Funktionsstörung des Gehirns, die sich bei über 60 % der Patienten als Depression manifestiert. Dadurch kann zum einen von einem mit MCAD-unerfahrenen Arzt die Erkrankung als somatoforme Störung verkannt werden, und zum anderen über bestimmte von den Neuronen freigesetzte Botenstoffe die MCAD verschlimmert werden. Was könnte getan werden? Erstens adäquate Therapie der Mastzellerkrankung, zweitens wenn notwendig, professionelle Hilfe durch einen Psychotherapeuten mittels Verhaltenstherapie.

Question: Sehr geehrter Herr Professor, Sie haben uns jetzt viele Erklärungen über den Stand der Dinge gegeben, wir wagen jetzt einmal einen Blick in die Zukunft. Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, damit das Krankheitsbild über das Mastzellaktivierungssyndrom im Allgemeinen bekannter wird, um den Betroffenen besser helfen zu können?

Prof. Molderings: Mehr Präsenz der Erkrankung in allen Arten der Medien, Interesse der Ärzte wecken, sich mit dieser komplexen Materie auseinanderzusetzen, erkrankte Prominente sollten über ihre Erfahrungen mit der Erkrankung berichten, Politiker auf allen Ebenen über das heraufziehende sozioökonomische Desaster durch die Erkrankung nachdrücklich informieren (Bei der Häufigkeit der Erkrankung sollte eigentlich jeder Politiker, wenn nicht selbst betroffen, in seinem Bekanntenkreis einen Erkrankten in einer ihrer Erscheinungsformen mit den Problemen kennen.).

Question: Wird es vielleicht in Zukunft ein neues Medikament für MCAS geben?

Prof. Molderings: Ja. Die Entwicklung wirksamer und verträglicher Medikamente sieht für die absehbare Zukunft nicht schlecht aus. Ein Reihe von Firmen und Forschergruppen sind mit der Identifizierung von erfolgversprechenden Angriffspunkten
in der Mastzelle für modulierende Medikamente beschäftigt.

Question: Sehr geehrter Herr Professor, wir danken Ihnen recht herzlich für die Zeit, die Sie sich für uns genommen haben. Mit Ihren Aussagen möchten wir gerne Betroffenen und deren Angehörigen helfen und werden dieses Interview dank Ihrer Zustimmung in Form einer Broschüre sowie im Internet auf unserer Homepage abbilden.

Prof. Molderings: Ich hoffe, ich konnte in verständlicher Form etwas zur Aufklärung über diese Erkrankung beitragen.