Zusammen mit dem Mastozytose e.V. haben wir dieses Interview vorbereitet und im Anschluss an die Jahrestagung des Mastozytose e.V. am 9. September 2023 geführt; Prof. Molderings hat sich freundlicherweise bereit erklärt, dass wir auch dieses dritte Interview für Veröffentlichungen nutzen dürfen.

Question: Sehr geehrter Herr Professor Molderings, erst einmal möchte ich mich im Namen unserer mittlerweile 16 Selbsthilfegruppen und des Mastozytose e.V. sehr herzlich bedanken, dass Sie uns heute noch einige Fragen zum Thema „Mastzellerkrankungen“ beantworten möchten. Bei unserem letzten Gespräch 2020 war die Corona-Pandemie in aller Munde; welche Corona-Erkenntnisse, auch zur Thematik „Post-/Long-Covid“ mit Hinblick auf Mastzellerkrankungen, haben Sie nachbetrachtend gewinnen können?

Leider gibt es bislang zum „Post-/Long-Covid-Syndrom“ keine gesicherten, für eine Behandlung belastbaren Erkenntnisse zu den Ursachen der Symptome. Folglich ist es für den individuellen Betroffenen unvorhersagbar, ob eine der propagierten Therapieversuche eine Besserung bringen wird. In einer Reihe von Forschungsvorhaben wird weltweit intensiv nach Therapiemöglichkeiten gesucht. Von der auch in den Medien verbreiteten therapeutischen Apherese kann ich Mastzellerkrankten wegen des hohen Risikos von schwerwiegenden Nebenwirkungen nur abraten. Hinsichtlich der Covid-19-Infektion kann eine Mitbeteiligung der Mastzellen am Krankheitsgeschehen als nahezu gesichert angesehen werden. Von daher sollten mastzellerkrankte Personen während einer Covid-19-Infektion eine optimale Therapie ihrer systemischen Mastzellerkrankung anstreben.

Question: Coronaschutzimpfung, eine Thematik, die vermutlich jeden Herbst in den kommenden Jahren wieder aktuell wird. Gibt es Empfehlungen für Mastzellerkrankte, wie man damit zukünftig umgehen kann? Falls ja, welche?

Zunächst gilt weiterhin, dass Mastzellerkrankte vor und nach der Impfung eine optimale Behandlung, d. h. weitgehende Ruhigstellung ihrer Mastzellen anstreben sollten. Das Robert-Koch-Institut hat offizielle Empfehlungen zur Impfung gegen Covid-19 herausgegeben, leider ohne besondere Berücksichtigung der mastzellerkrankten Patientengruppe. Ich bitte um Verständnis, dass ich hier meine persönliche Einstellung zu diesen offiziellen Impfempfehlungen aus haftungsrechtlichen Gründen nicht darlegen kann.

Question: Die Thematik „Umgang mit Impfungen“ hatten wir beim letzten Interview schon besprochen (siehe Seite 6) – Grippeschutzimpfung ist ja okay – wie sieht es denn mit der Impfung gegen die Lungenentzündung aus?

Auch hierzu gibt es offizielle Empfehlungen. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt allen Erwachsenen ab 60 Jahren
eine Impfung gegen Pneumokokken, die je nach Gesundheitszustand nach 6 Jahren gegebenenfalls aufgefrischt werden sollte. Die Impfung soll das
Risiko, überhaupt oder schwer zu erkranken, verringern. Bei dem Pneumokokken-Impfstoff (PPSV23), der gegen 23 verschiedene Pneumokokken-Typen schützen soll, handelt es sich um einen Impfstoff aus den Zuckern der Bakterienhülle. Es ist also ein Totimpfstoff, der auch von Mastzellerkrankten vertragen werden sollte. Ob ein Patient geimpft werden sollte, also, ob die Nutzen-Risiko-Abwägung zugunsten des Nutzens ausfällt, kann nur durch den behandelnden Arzt entschieden werden. Bei diesem Abwägungsprozess sind eine Vielzahl von individuellen Faktoren zu berücksichtigen.

Question: Außerordentlich beworben wurde die „Impfung gegen Gürtelrose“. Wie sollen sich „Mastzellerkrankte“ diesbezüglich verhalten?

Die STIKO empfiehlt die Impfung gegen Gürtelrose mit einem Totimpfstoff zur Verhinderung von Gürtelrose und länger anhaltenden Nervenschmerzen (sogenannte postherpetische Neuralgie) allen Personen ab 60 Jahren, allen Personen ab 50 Jahren, deren Immunsystem geschwächt ist oder die ein schweres Grundleiden haben. Die zweifache Impfung mit dem Totimpfstoff soll eine Schutzwirkung vor Gürtelrose von 92 % und vor Nervenschmerzen von 82 % haben. In diesem Zusammenhang sollte man sich aber auch vergegenwärtigen, dass bei rechtzeitiger Erkennung einer Gürtelrose diese gut mit spezifischen Medikamenten therapierbar ist und eine solche Therapie auch der gefürchteten post-herpetischen Neuralgie vorbeugt. Nach meinen Erfahrungen werden diese spezifischen Medikamente auch von Mastzellerkrankten gut vertragen.

Question: Lieber Prof. Molderings, wie gehe ich denn zukünftig mit Tetanusimpfungen um. Und wir haben sogar eine gezielte Rückfrage bezüglich „Affenpocken“ – welche Aussagen können Sie zu diesen beiden Punkten machen?

Auch hier kann ich aus haftungsrechtlichen Gründen nur auf die Empfehlungen der STIKO verweisen. Es gilt, dass jede Impfung zählt und eine einmal erfolgte Grundimmunisierung auch bei Intervallen, die mehr als zehn Jahre betragen, nicht wiederholt werden muss. Dennoch empfiehlt die STIKO die Auffrischungsimpfung gegen diese Erkrankung alle zehn Jahre, um einen sicheren Schutz gegen Tetanus zu erzielen. Der Tetanusimpfstoff ist ein Totimpfstoff. Aus meiner Sicht ist es für Mastzellerkrankte problematisch, dass es meines Wissens nach heute den Tetanusimpfstoff nur noch als Teil eines Mehrfachimpfstoffes (häufig Tetanus-Diphtherie-Keuchhusten) gibt. Dadurch besteht, wie bei allen Mehrfachimpfstoffen bei Mastzellerkrankten, ein erhöhtes Risiko für eine zu starke Aktivierung des Immunsystems mit der Folge einer Verschlimmerung der systemischen Mastzellaktivierungserkrankung. Im Fall einer solchen Impfung sollte der Betroffene unbedingt vor und nach der Impfung eine übermäßige Aktivierung der Mastzellen durch eine optimale MCAD-Therapie versuchen zu verhindern. Die Impfung gegen Affenpocken wird aktuell nur als Indikationsimpfung für Personen mit einem erhöhten Expositions- und Infektionsrisiko und als Post–expositionsprophylaxe nach Affenpockenexposition empfohlen. Trotz der mit der Zeit nachlassenden Wirkung der Pockenimpfung, schätzt man auf der Basis von Studienergebnissen, dass eine vorangegangene Pockenimpfung einen Schutz von 85 % gegenüber Affenpocken und insbesonderen vor deren schwerem Krankheitsverlauf vermittelt .

Question: Wir bekommen immer wieder Rückfragen, warum MCAS noch keinen ICD-Code hat und damit zu einer in Deutschland anerkannten Krankheit wird. Kann man überhaupt noch mit einer Aufnahme in den ICD 11 rechnen?

Das ist ein gesundheitspolitisches Problem. Von den politischen Entscheidungsträgern und deren ministeriellen Zuarbeitern wird offensichtlich das zukünftige Sprengpotenzial der systemischen Mastzellerkrankung mit einer Häufigkeit von 17 % in der deutschen Bevölkerung für das Gesundheitssystem noch nicht gesehen.

Question: Nach wie vor ein Dauerbrenner ist das Thema „Diagnostik der Mastzellerkrankung“. Vor kurzem habe ich Ihr neues Buch, das Sie mit Prof. Dr. Mücke ausgearbeitet haben, gelesen; vielleicht können Sie für uns das Wichtigste in Kurzform zusammenfassen.

1. Die systemische Mastzellaktivierungserkrankung mit ihren Varianten und klinischen Erscheinungsformen kann anhand von definierten
Kriterien eindeutig als eigenständige Erkrankung diagnostiziert werden.
2. Die Erkrankung muss und kann personalisiert behandelt werden.
3. Der Erkrankte sollte sich nicht schämen, entsprechende ihm zustehende
soziale Unterstützung einzufordern und sich nicht scheuen, dies, wenn notwendig, auch über eine gerichtliche Auseinandersetzung zu tun.

Question: Viele Betroffene würden gerne mehr Sport treiben: Wie sollte man sich mit Sport verhalten, wenn man ein Problem mit einer Mastzellerkrankung hat? Denn Sport kann ja auch andererseits Stresshormone abbauen und den Körper mit Serotonin oder anderen Glückshormonen positiv unterstützen.

Grundsätzlich gilt: keine körperlichen Anstrengungen über die persönliche Leistungsgrenze hinaus. Bei einer MCAD sollte man immer, auch im Alltag, auf die körperlichen Signale achten und sich eine Pause gönnen, wenn die Belastungsgrenze erreicht ist. Die zweite Empfehlung ist daher: Legen Sie Ruhephasen ein, wenn die körperliche Situation (z. B. bei plötzlicher Müdigkeit oder dem Gefühl körperlicher Erschöpfung) dies verlangt. Aus theoretischen Erwägungen, die sich in der Praxis bestätigen, sollten Sportarten gemieden werden, die zu einer starken Erschütterung des Darmes führen, wie Laufsportarten (Joggen, Fußball, Basketball etc.), Reiten, Tennis und Golf. Prinzipiell mögliche sportliche Betätigungen sind Radfahren, Schwimmen und ausgewählte Übungen in einem Fitnessstudio. Sollte der Anklang einer Mastzellmediatorsymptomatik spürbar werden, beenden Sie die sportliche Aktivität bitte sofort! Legen Sie sich an Ort und Stelle 30 Minuten hin und begeben sich anschließend an einen Ort, an dem Sie sich einige Stunden hinlegen können, bis die Mastzellen sich wieder beruhigt haben. Hält man sich nicht an diese Faustregel, treten mit ziemlicher Sicherheit ca. 4-10 Stunden später heftige Mastzellmediatorbeschwerden auf. Stresshormone, Serotonin und andere Hormone sind so komplex in die Mastzellaktivitätsregulation eingebunden, dass der in der Frage mitschwingende erwartete positive Effekt dieser Hormone bei Mastzellerkrankten nach meiner Erfahrung ausbleibt.

Question: Vitamine sind ja eigentlich sehr gut für den Körper. Sie empfehlen in Ihrem neuen Ratgeber u. a. die Aufnahme von max. 750 mg Vitamin C pro Tag. Warum eigentlich nicht mehr? Und warum nicht mehr, wenn man sich gerade in einem „Schub“ befindet? Ist dann nicht gerade eine wesentlich höhere Vitamin-C-Zufuhr zielführend?

Vitamin C, chemisch L-(+)Ascorbinsäure, ist eine organische Säure. Sie kann, wie alle organischen Säuren, u. a. über den MRGPRX2-Rezeptor auf den Mastzellen diese erheblich stimulieren. Gleichzeitig hemmt Ascorbinsäure bei ausreichender Konzentration im Gewebe (die nur über die Einnahme in Form von retardiertem Vitamin C erreicht wird) zum einen das Histamin-bildende Enzym Histidindecarboxylase in der Mastzelle und senkt dadurch den Histamingehalt der Mastzelle und führt zum anderen zu einer direkten chemischen Zerstörung von freigesetztem Histamin. Dadurch wird die reziproke (autokrine) Mastzellaktivierung durch freigesetztes Histamin reduziert. Allerdings ist zu beachten, dass mit steigender Dosierung die aktivierende Wirkung über den MRGPX2-Rezeptor kontinuierlich zunimmt. Ab ca. 1 g Ascorbinsäure ist die aktivierende Wirkung größer als die aktivitätshemmende Wirkung, sodass der Nettoeffekt in einer dosisabhängigen zunehmenden Verschlimmerung der MCAD-Symptomatik besteht. Empirisch hat sich gezeigt, dass 750 mg retardiertes Vitamin C die optimale Dosis darstellt, bei der deren mastzellaktivitätshemmender Einfluss die aktivitätssteigernde Wirkung so deutlich überwiegt , dass diese nicht wahrgenommen wird. Grundvoraussetzung für die Anwendung von retardiertem Vitamin C ist allerdings deren grundsätzliche Verträglichkeit durch den Patienten. Dies sollte in einer alleinigen Einnahme der Substanz ausgetestet werden.

Question: Mit Spannung erwarten viele Betroffene ein wirksames Medikament zur Linderung von Mastzellerkrankungen; wie ist denn diesbezüglich der Stand der Dinge?

In dieser Frage schwingen eigentlich mehrere Fragen und Probleme der praktischen Umsetzung der Therapie von Mastzellerkrankungen mit.
1. Die Frage nach Medikamenten, die zu einer echten Heilung der systemischen Mastzellerkrankung führen. Dies können nur Medikamente sein, die auf die epigenetischen Ursachen Einfluss nehmen. Solche Medikamente werden in der Therapie von bösartigen Erkrankungen, wie bestimmten Leukämien, schon z. T. eingesetzt. Aber sie können schwerste bis tödliche Nebenwirkungen haben, sodass die derzeitig verfügbaren Medikamente für die Behandlung der MCAD nicht in Frage kommen. Aber es wird intensiv daran gearbeitet, Stoffe mit günstigerem Nutzen-Risiko-Profil zu entwickeln.
2. Die Frage nach Medikamenten, die bereits alleine gegeben zu einer Reduktion der Beschwerden auf Befindlichkeitsniveau führen. Solche Stoffe sind bei verschiedenen Firmen in der Entwicklung und werden mit ziemlicher Sicherheit noch in diesem Jahrzehnt zur Verfügung stehen.
3. Warum ist es so schwer, mit der aktuellen Kombinationstherapie einen zufriedenstellenden Therapieerfolg zu erreichen? Das liegt daran, dass viele
Einzelkomponenten in der Therapie zusammenpassen müssen und dies in der Praxis nur selten zu erreichen ist. Solche Komponenten sind unter anderem die Verschreibung geeigneter Medikamente und die therapeutische Begleitung des Patienten durch den Hausarzt, kontinuierliche Dosisanpassung der Medikamente an die jeweilige aktuelle Intensität der Erkrankung durch den Hausarzt, die verordneten Medikamente in der verordneten Dosierung auch tatsächlich einzunehmen (die Angst vor einer Abhängigkeit ist weit verbreitet; die Durchsicht des Beipackzettels vor der Einnahme ist durchaus sinnvoll, damit vom verschreibenden Arzt übersehene Kontraindikationen vom Patienten erkannt werden), die richtige Form der Einnahme, um Unverträglichkeiten gegenüber Begleitstoffen schon zu Beginn der Therapie zu identifizieren und die Anpassung der Lebensführung an die Erkrankung.

Question: Sehr geehrter Herr Professor, vielen Dank, dass Sie uns wieder einmal mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir hoffen, dass diese neue Broschüre und Ihr gerade veröffentlichter Ratgeber „Die systemische Mastzellerkrankung“ wesentlich dazu beitragen, das Wissen um MCAS bzw. allen Mastzellerkrankungen zu erweitern und damit das Leiden der Betroffenen zu lindern.

Gern geschehen. Abschließend möchte ich noch etwas Hoffnung vermitteln. Bei der MCAD handelt es sich um eine widerliche, aber nicht die Lebenserwartung einschränkende Erkrankung (bis auf die Formen der Variante Systemische Mastozytose, die mit einer leukämieartigen Erkrankung assoziiert sind). Ursachen und Mechanismen der Erkrankung sowie die Funktionsmechanismen in der Mastzelle sind mittlerweile in weiten Teilen aufgeklärt, so dass die Entwicklung von spezifischen Medikamenten voranschreitet und das Licht am Ende des Tunnels aus meiner Sicht doch schon ziemlich hell geworden ist. In diesem Sinne wünsche ich allen Betroffenen alles Gute und verlieren Sie nicht Ihren Mut in den schlechten Phasen der Erkrankung.